Ich sitze an meinem Schreibtisch, bzw. an meinem Computer und will, nein muss arbeiten. Linus liegt oben auf dem Monitor und schaut mich ein bisschen verschlafen vertrauensvoll an.
Gleich wird er versuchen meinen Schoß zu entern wie immer. „Nein, Linus, jetzt nicht. Mama muss arbeiten“. Beleidigt kehrt er auf den Monitor zurück. Nach fünf Minuten macht er den nächsten Versuch. Dieses Mal lasse ich mich breitschlagen. Er macht es sich auf meinem Schoß bequem, hinterlässt eine Bremsspur auf meinem T-Shirt, hakt mir die Krallen in die Hose und ich drehe ihn schließlich auf den Rücken, wie er es liebt und kraule sein Bäuchlein und seine Pfoten. Nach ein paar Minuten setze ich ihn auf den Boden und kehre an meine Arbeit zurück. Wieder trifft mich dieser vorwurfvolle Blick, aber dieses Mal gebe ich nicht nach. Er legt sich neben seine Freundin Panja und entschlummert.
Linus ist jetzt acht Jahre alt, das einzige Kind meiner Harriet, Enkel meiner alten Dame Sissy.
Seit einem halben Jahr lebt er wieder bei mir.
Vor gut sieben Jahren hatte ich ihn an eine Familie verkauft, die in einem der Nachbarorte wohnte. Sie machte einen netten Eindruck. Ich erzählte dem Ehepaar damals, dass Linus nicht jedes Futter verträgt, erklärte ihnen, was sie zu tun hätten und gab ihnen das entsprechende Futter mit. Sie riefen mich noch ein oder zweimal an und teilten mir mit, dass es Linus gut ginge. Dann hörte ich nichts mehr von ihnen, wie das ja häufiger der Fall ist.
An einem schönen grauen Novembertag Ende letzten Jahres kam ich mittags nach Hause. Ich hatte wenig Zeit, weil wir nachmittags Konferenz hatten. Ich versorgte wie immer meine Rasselbande und wollte mir gerade selbst etwas zu essen machen, als das Telefon klingelte.
Es meldete sich eine ältere Dame aus Münster. Sie berichtete mir, dass sie vor einigen Wochen ihren alten Siamkater habe einschläfern lassen müssen. Sie sei sehr krank, habe Krebs und müsse jeden Morgen zur Chemotherapie. Dennoch habe sie gern wieder eine Siamkatze haben wollen. Sie hätte in der Zeitung eine Annonce gelesen, dass ein älteres Tier abzugeben sei. Sie habe sich mit den Leuten in Verbindung gesetzt und diese hätten ihr schließlich das Tier gebracht.
Die ganze Zeit überlegte ich, was ich denn nun eigentlich mit der Sache zu tun hätte. Aber da ich es gewohnt bin, dass mich manchmal die unterschiedlichsten Leute anrufen und eigentlich nur über ihre Tiere oder über irgendwelche Schwierigkeiten berichten wollen, hörte ich brav zu mit einem Auge auf mein Essen und dem anderen zur Uhr.
Schließlich erzählte mir die Dame, sie glaube mit der Übernahme des Katers einen großen Fehler gemacht zu haben. Wie es sich gehört, fragte ich, wieso sie meine, einen Fehler gemacht zu haben. Sie erklärte, der Kater sei ganz gewiss nicht in Ordnung. Das Fell sehe nicht gut aus und er sei so mager, dass die Knochen der Hinterpfoten regelrecht herausstünden. Die Vorbesitzer hätten ihr erzählt, der Hund habe den Kater nicht mehr an den Futternapf gelassen. Immer noch fragte ich mich, was nun der Grund für ihren Anruf bei mir war.
Inzwischen wurde ich auch ein bisschen nervös. Ich hatte Hunger und wollte wenigstens noch einen Happen zu mir nehmen. Unsere Konferenzen ziehen sich leider manchmal bis in den frühen Abend. Ich wartete nur auf die Gelegenheit, das Gespräch höflich, aber bestimmt zu beenden.
Sie berichtete dann weiter, dass sie versucht habe, die Leute telefonisch zu erreichen, was nicht möglich gewesen sei. Einen Tierarzt aufzusuchen sei ihr aus finanziellen Gründen nicht möglich. Sie habe dann in sein „Büchlein“ geschaut – gemeint war der Impfpass – und habe dort meinen Namen entdeckt. Er hieße „Linus von der Grünstiege“. Zunächst fiel bei mir kein Groschen, wähnte ich doch meinen Kater von damals in guten Händen und bestens versorgt.
Ich erklärte ihr, dass ich im Augenblick wenig Zeit hätte und sie später wieder anrufen würde.
Während ich dann zur Konferenz fuhr, begann mein Hirn fieberhaft zu arbeiten. Alles fiel mir wieder ein: die schwere Geburt, die Harriet gehabt hatte, nur ein Baby in Hinterendlage über Kopf. Ich sehe die Geburt noch heute vor mir: Ein Pfötchen kam heraus, wurde lang und länger und nichts weiter geschah. Harriet presste und presste und schließlich, als es nicht mehr weiterging, entschloss ich mich vorsichtig zu ziehen. Ich merkte, dass das zweite Pfötchen im Geburtskanal festhakte, versuchte es vorsichtig mit einem Finger zu lösen. Endlich, endlich kam das Baby, hatte aber natürlich einen dicken Bluterguss in den Hinterpfoten und im Schwänzchen. Die beiden letzten Glieder des Schwanzes trockneten und fielen nach ein paar Tagen ab. Aber was sollte es!! Der Kleine war dennoch munter und gesund, nahm gut zu und Harriet war eine vorbildliche Mutter.
As ich von der Konferenz zurückkam, schickte ich zunächst ein Fax an meine Tierärzte mit der Bitte um Rückruf, dann rief ich die ältere Dame in Münster wieder an. Sie erklärte mir, dass sie inzwischen sich mit dem Tierheim in Münster in Verbindung gesetzt habe, die bereit wären, das Tier zu übernehmen. Ich sagte ihr, dass ich es auf keinen Fall zuließe, dass ein Tier aus meiner Zucht im Tierheim lande, wenn ich es verhindern könnte. Ich wolle den Kater am Wochenende abholen und ihn tierärztlich versorgen lassen.
Damit war sie einverstanden.
Meine Tierärztin rief mich zurück und ich schilderte ihr die Situation. Da sie ohnehin am nächsten Tag in Münster zu tun hatte, bot sie mir an, den Linus abzuholen. Dankbar nahm ich an.
Am nächsten Nachmittag bekam ich dann einen Anruf aus der Praxis, dass meine Michaela mit dem Kater eingetroffen sei. Ich fuhr sofort hin und als ich das Sprechzimmer betrat, war Michaela gerade dabei, eine Blutprobe zu nehmen. Mein Linus saß auf dem Tisch und schaute mit schreckgeweiteten Augen um sich. Das nächste, was ich entdeckte, war, dass die Flöhe nur so umher sprangen. Wir entflohten ihn sofort, eine Wurmkur bekam er auch, denn natürlich hatte er auch Flohbandwürmer.
Dann stellten wir ihn auf die Waage. Er wog noch ganze sechs Pfund!!! Er ist ein bisschen größer als sein Vater Eclair und der wiegt zwölf Pfund!
Am nächsten Tag holte ich ihn nach Hause. Stundenlang lag er in den ersten Wochen auf der Treppe vor dem Zimmer, in dem er geboren wurde und starrte durch die Glastür.
Vor Männern hatte er große Angst und es dauerte sehr lange, bis mein Freund Hermann ihn auch anfassen durfte.
Natürlich wollte ich ihn zunächst nicht behalten, sondern an liebe Leute weiter vermitteln, aber dann brachte ich es doch nicht mehr fertig, ihn wieder abzugeben. Ich stellte mir immer vor, dass vielleicht die nächsten Besitzer auch nicht mit ihm umgehen könnten. So bleibt er also hier. Er hat inzwischen den Beinamen „Schoßkrabbler“ erhalten, weil er eben keine Gelegenheit auslässt um auf meinem Schoß zu landen.
Jetzt, während ich seine Geschichte aufschreibe, liegt er wieder auf dem Monitor und öffnet ab und an ein Auge, um zu testen, ob er die nächste Landung auf meinem Schoß vorbereiten sollte.
Ich bin so traurig zu sehen, wie manche Menschen mit ihren Tieren umgehen. Vor allem bin ich aber darüber traurig und entsetzt, feststellen zu müssen, dass ich letzten Endes meine Tiere nicht davor schützen kann, doch nicht an die richtigen Leute zu gelangen.